Vorwort im Buch Der Männerrundbrief. radikal – autonom – profeministisch. Eine Auswahl.
Wir vom Blog Männerrundbrief haben vor sechs Jahren (2018) die Männerrundbriefe digitalisiert und auf einem Blog online zugänglich gemacht. Auf diesem dokumentieren wir alle 18 Ausgaben des Männerrundbriefs von 1993–2002. Der Männerrundbrief war das Vernetzungsorgan der damals bundesweit existierenden linksradikalen Männergruppen, Männercafés und ähnlichen Organisierungsformen von Männern aus der autonomen und radikalen Linken.
Ausgangspunkt: bereits erarbeitetes Wissen nutzen
Ausgangspunkt unserer Initiative war ein theaterpädagogisch inspirierter Workshop zur kritischen Auseinandersetzung mit Männlichkeit für männlich Sozialisierte, der im Februar 2017 unter dem Namen »Im Zweifel für den Zweifel« stattgefunden hat. Im Workshop wurde u.a. deutlich, dass gerade jüngere Generationen den Männerrundbrief und die in ihm geführten Diskussionen überhaupt nicht mehr kennen.
Wenn man mit heutigen Debatten um Männlichkeit vertraut ist, weiß man, dass viele Beiträge im Männerrundbrief damals wesentlich fortgeschrittener waren. Die Texte sind teilweise erschreckend aktuell. Wir sind der Ansicht, dass es aus nachfolgenden Gründen wichtig ist, diese Diskussionen zu kennen.
Es sind auch tolle, interessante Texte, die häufig eine Verbindung von persönlicher Erzählung und Analyse der eigenen Verstrickung in unterdrückende Verhältnisse vereinen, gepaart mit Witz und Humor. Bereits 2000 beispielsweise gab es eine Schwerpunktausgabe zu Männlichkeit und Klasse, also relativ früh für eine deutsche Debatte. Es finden sich viele weitere Beispiele intersektionaler Thematisierungen, auch wenn der Begriff »Intersektionalität« damals nicht verwendet wurde.
Mit dem Online-Stellen kann sich das damals erarbeitete Wissen wieder angeeignet werden. Wir verbinden damit die Hoffnung, dass einige der damaligen Diskussionsstränge wieder aufgegriffen werden, die mit dem Wegbrechen der linksradikalen/autonomen Männerbewegung zunehmend verloren gegangen sind. Damit ging und geht es auch darum, nicht immer wieder das Rad neu zu erfinden, sondern bereits erarbeitetes Wissen zu nutzen.
Kontinuität emanzipatorischer Kämpfe
Zugleich geht es auch darum, sich selbst in eine Kontinuität emanzipatorischer Kämpfe zu stellen, sich auf das zu beziehen, was war und dafür zu sorgen, dass zukünftige Generationen etwas davon haben. Und dabei nicht so zu tun, als sei man die erste Person, die kritisch zu Männlichkeit arbeitet. Wir schütteln immer wieder den Kopf über Artikel, in denen es heißt, dass »das Thema Männlichkeit seit zwei Jahren (oder so) stärker thematisiert wird«. Aha. Das sagt mehr über die historische Ignoranz der Personen aus, die so etwas schreiben als über die Realität. Fakt ist: Es gibt eine lange Geschichte der kritischen und emanzipatorischen Auseinandersetzung von Männern mit Männlichkeit in Deutschland.
Antifaschismus
Eine weitere Motivation von uns entspringt dem Antifaschismus. Die kritische Auseinandersetzung von heterosexuellen Cis-Männern mit Männlichkeit war schon immer marginal, auch in linken und emanzipatorischen Kontexten. Zugleich wird die Gruppe heterosexueller Cis-Männer seit Jahren sehr erfolgreich von Rechts (von der Esoterik über die konservative Parteienlandschaft bis hin zum Neonazismus) umworben. Der Rückgang der autonomen Männerbewegung der 80er und 90er-Jahre ging zugleich damit einher, dass die bürgerliche Männerbewegung immer selbstbezogener und weniger feministisch wurde. Die Folgen all dessen zeigen sich nicht zuletzt im heutigen politischen Gender Gap.
Kritische Thematisierungen von Männlichkeit und Sexualität, wie sie damals u.a. im Männerrundbrief geführt wurden, können ein wichtiger Kontrapunkt zu rechter, maskuli(ni)stischer, antifeministischer, antiqueerer und konservativer Identitätspolitik und deren Verengungen sein. Bereits 2002 hieß es in der letzten Ausgabe des Männerrundbriefs: »Eine Zeitung wie der Männerrundbrief wäre eigentlich nötiger denn je, da der patriarchale Rollback (…) in vielen Bereichen heftiger geworden ist« (Männerrundbrief 17, S. 9). Diese Situation hat sich heutzutage deutlich verschärft. Vor diesem Hintergrund finden wir die kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit nicht nur allgemein im Rahmen gesellschaftlicher Emanzipationsbestrebungen und (Selbst-)Befreiungspotenzialen sinnvoll, sondern auch angesichts weltweiter Remaskulinisierungsbestrebungen und des aggressiven Kampfs gegen (Queer-)Feminismus und »Genderismus« notwendiger denn je, um den Männermobilisierungen von Rechts etwas entgegen zu setzen.
Digitalisierung
Anhand der Entwicklung des Männerrundbriefs lässt sich eine bestimmte technische Entwicklung veranschaulichen, die in den letzten Jahrzehnten das gesamte Printwesen ganz fundamental verändert hat.
Entstanden ist der Männerrundbrief in einer Prä-Internetzeit, in der Beiträge entweder auf Diskette oder Ausdruck eingereicht wurden und er per Schnippellayout mit Cut & Paste und Klebstoff erstellt wurde. Später konnten Texte auch per E-Mail eingeschickt werden und das Layout wurde professioneller.
Digitalisierung wird begleitet von dem Mythos, im Internet fände man alles. Das stimmt generell nicht, aber noch weniger für Graue Literatur aus der Zeit bevor PCs verbreitet waren und das Internet für alle so einfach zugänglich war wie es heute der Fall ist. Graue Literatur ist Literatur, die nicht im regulären Buchhandel erhältlich ist, die keine ISBN- oder ISSN-Nummer hat und die nicht von der Deutschen Nationalbibliothek erfasst wird. Viele linke Publikationen sind Graue Literatur. Digitalisierungsbestrebungen von Google oder anderen werden in aller Regel keine Graue Literatur digitalisieren, schon alleine deswegen, weil sie nicht in normalen Bibliotheksbeständen auftauchen.
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu bedenken, dass viele linke Zeitschriften und Publikationen aus Prä-Internetzeiten (bisher) nicht online auffindbar sind. Auch hier geht es darum, nicht immer wieder das Rad neu zu erfinden, sondern aus alten Debatten zu lernen und darauf aufzubauen.
Bereits beim Aufsetzen des Blogs für den Männerrundbrief gab es die Idee, auch die Tuntentinte online zu stellen. Die Tuntentinte ist eine Zeitschrift aus der linksradikalen schwulen Bewegung, die zeitgleich zum Männerrundbrief erschien. Damals hatten wir keine Ressourcen dafür, haben die Digitalisierung aber vor zwei Jahren (2022) nachgeholt (https://tuntentinte.noblogs.org/).
(Hetero-)Sexualität
Das Vorhandensein zweier linksradikaler Zeitschriften, die sich aus antipatriarchaler, (pro-)feministischer Sicht mit Männlichkeit beschäftigen, verweist dabei nicht so sehr auf eine wünschenswerte Pluralität, sondern darauf, dass das, was sich als »Männerbewegung« formiert hat, implizit heterosexuell war – und ist. Schwule haben sich als »Schwule« organisiert; Männerbewegung und schwule/bisexuelle/queere Bewegungen von Männern sind tendenziell auseinandergefallen. Dies war und ist bei heterosexuellen Feministinnen und Lesben anders: Hier gingen Kämpfe um Emanzipation von der Tendenz her eher zusammen (früher »FrauenLesben«, heute »FLINTA«), wenn auch mit vielen internen Kämpfen und Konflikten.
Reaktionen und Rezeption
Wir freuen uns über die Reaktionen und die Rezeption, die es
bisher auf unsere Initiative gegeben hat. So wurde in etlichen Publikationen
auf unseren Blog verwiesen – sowohl in solchen, die sich kritisch mit
Männlichkeit beschäftigen als auch in feministischen.Yves Müller hat aufgrund unseres Blogs einen
wissenschaftlichen Fachartikel zu Männlichkeit und Faschismus anhand der
Diskussionen im Männerrundbrief geschrieben. Auch dieser Artikel findet
sich auf unserem Blog.Auch haben wir den Eindruck, dass der Begriff
»Profeminismus« mehr Verwendung findet. »Profeminismus« war ein zentraler
Begriff der Redaktionen des Männerrundbrief und meint eine Haltung, die sich
positiv auf den Feminismus bezieht, aber der Ansicht ist, dass Männer selbst
keine Feministen sein können. Der Begriff ist zugleich eine Abgrenzung zur
bürgerlichen Männerbewegung wie bspw. Männerzusammenschlüsse in Kirchen,
Stiftungen, etc.Nicht zuletzt gibt es dieses Buch, für das verschiedene
Leute fleißig die Artikel aus den Männerrundbriefen abgetippt haben.
Dies wiederum hat es uns ermöglicht, die abgetippten Artikel auf den Blog zu
stellen (zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht ganz abgeschlossen), so dass
nicht nur die Lesegewohnheiten der Generation Buch bedient werden, sondern es
Online-Verlinkungen und eine Textsuche gibt und sich alles auf verschieden
großen Endgeräten lesen lässt.
Wenn wir uns heutige Veröffentlichungen ansehen, die sich
kritisch mit Männlichkeit beschäftigen, beobachten wir neue Publikationen,
Institutsgründungen, Podcasts u.ä. Eigentlich eine begrüßenswerte Entwicklung,
jedoch hinterlassen einige männliche Akteure den Eindruck, dass mit steilen
Thesen und einer gehörigen Portion Aggression das sattsam bekannte Spiel »Ich
bin weiter als du« gespielt wird mit dem unique selling point, sich als noch
»radikaler« und »kritischer« als die anderen zu positionieren. (Männliche)
Konkurrenz, ick hör dir trapsen… Einige hervorgebrachte Punkte haben dabei
sicherlich ihre Berechtigung, jedoch ist der Wunsch nach gesellschaftlicher
Veränderung bei einigen Akteuren kaum erkennbar. Unser Blog soll hingegen Teil
einer solidarischen Diskussion sein und versteht sich als Teil einer emanzipatorischen
Bewegung, der es um reale Gesellschaftsveränderung geht.
Wir danken allen, die dazu beigetragen haben und freuen uns
auf das, was noch kommt und wenn unser Blog bekannt(er) gemacht und gelesen
wird.
Blog Männerrundbrief
27. März 2024