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Liberale Ignoranz und repressive AbwehrZur Auseinandersetzung um »Pädosexualität«

Vor fast einem Jahr reagierte der Hamburger Buchladen »Männerschwarm« mit einer »öffentlichen Erklärung«1 auf die polizeiliche Beschlagnahme von Fotomagazinen und Bildbänden, in denen Nacktfotos von Kindern enthalten waren. Auf diese Erklärung reagierten die Frauen und Lesben aus dem Hamburger Infoladen »Schwarzmarkt« mit einem Flugblatt2 , in dem sie dem »Männerschwarm« Rechtfertigung von sexueller Gewalt vorwarfen und die weitere Zusammenarbeit mit dem »Männerschwarm« in dem Hamburger Zusammenschluss linker Buchläden ablehnten. Zu der Auseinandersetzung erschien im letzten »Männerrundbrief« eine Stellungnahme der Archiv-Männer3.

Ich will auf die »Männerschwarm«-Erklärung und die Stellungnahme der Archiv-Männer eingehen, soweit sie das Thema »Pädophilie« betreffen:

Solange – wie in der »Männerschwarm«-Erklärung« geschehen – »Pädosexuelle« und mit ihnen solidarische Männer immer wieder mit liberaler Ignoranz gesellschaftliche Machtverhältnisse zwischen Männern und Kindern übersehen, um sich als Opfer sexualfeindlicher Verfolgung darzustellen, werden sie auf keine Solidarität »denkender Heterosexueller4« hoffen können (I.). Wenn umgekehrt sich als »antipatriachal« verstehende Männer »Pädophilie« mit sexueller Gewalt gleichsetzen – siehe die Stellungnahme der Archiv-Männer –, ist dies weniger radikale Kritik an patriarchalen Verhältnissen, sondern vielmehr repressive Abwehr jener Gemeinsamkeiten von »heterosexuellen« Männern mit »Pädophilen«, die die eigene »Heterosexualität« infrage stellen könnten (II.).

I.

In seiner »öffentlichen Erklärung« betont das Buchladenkollektiv, dass es lediglich Bildbände oder Magazine mit Nacktfotos einzelner oder miteinander spielender Kinder im Sortiment habe, aber keine Darstellungen sexueller Situationen. Bei der Bewertung solcher Nacktfotos komme es darauf an, »ob die abgebildeten Knaben freiwillig und ohne Widerwillen Modell gestanden haben«. Das Kollektiv habe die von ihm angebotenen Bücher und Magazine nach diesem Kriterium überprüft: »Unserer Meinung nach sieht man es einem Foto an, ob das Kind freiwillig eine unter anderem erotische Pose einnimmt. Es ist nur schwer vorstellbar, dass ein erotisches Foto gelingt, an dem das Modell nicht mitwirkt.«

Diese Bewertungsmethode der Männerschwarm-Männer erscheint mir angesichts der manipulativen Möglichkeiten mehr oder weniger professioneller Fotografen und angesichts der Begrenztheit des eigenen (»männlichen«?) Einfühlungsvermögens nicht nur reichlich naiv. Ihr liegt offensichtlich auch das herrschende Klischee von der »Natürlichkeit« des Kindes, das sich nicht verstellen und deshalb auch nicht unfreiwillig erotisch posieren könne, zugrunde. Genau dieses Klischee ist es, das Kinder für Erwachsene zu so befriedigenden Projektionsflächen eigener Wünsche macht; es lässt im erfolgreich manipulierten Kind die eigenen Wünsche im klaren Licht unverdorbener Natürlichkeit erstrahlen.

Indem das »Männerschwarm«-Kollektiv zur »entscheidenden Frage« erhebt, ob die Kinder »freiwillig und ohne Widerwillen Modell gestanden haben«, und meint, diese »Freiwilligkeit« auch durch Bildbetrachtung erkennen zu können, reduziert es das Problem. Übrig bleibt dann nur noch die Frage, ob Bilder unter offensichtlichem Zwang hergestellt wurden. Völlig ausgeblendet wird dadurch der gesellschaftliche Kontext, in dem solche Bilder hergestellt und verkauft werden. In der »öffentlichen Erklärung« taucht dieser Kontext deshalb auch nur verkürzt in der familiären Form von kinderschändenden Vätern und Onkel auf. Von der familiären Gewalt lassen sich dann leicht die außenstehenden Pädophilen abheben, »die nichts tun, was gegen die Selbstbestimmung der Kinder verstößt«.

Zwischen Erwachsenen und Kindern besteht hier und heute aber ein umfassendes, strukturelles Machtverhältnis. Kinder leben in und außerhalb von Familien weitgehend in organisatorischen, finanziellen und emotionalen Abhängigkeiten zu Erwachsenen. Dies zeigt sich schon daran, dass es nur den wenigsten älteren Kindern möglich ist, das engere Lebensumfeld selbstbestimmt auch nur teilweise zu wechseln. Mit diesem Abhängigkeitsverhältnis einher geht eine Ideologie vom Kind, die dessen Entwicklungs- und Wachstumsprozess als Ausdruck unvollkommenen Subjekt-Seins begreift und es deshalb rein fürsorglich zum Objekt pädagogischer Verantwortung und erwachsener Voraussicht erklärt. Dieser Objektstatus des Kindes schlägt sich in fast jeder noch so unbedeutenden Alltagskommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen nieder (mann braucht sich da nur selber kritisch zu beobachten) und wird so bestätigt. Im Verhältnis zwischen Männern und Mädchen verschärft sich dieses Machtverhältnis noch weiter um die patriarchale Herrschaft zwischen den Geschlechtern.

Männergewalt in Familien ist nur ein Ausschnitt der Gewaltverhältnisse, denen das oben genannten Machtverhältnis zugrunde liegt. Auch wenn »Pädosexuelle« sich selber von Kinder misshandelnden Familienvätern abgrenzen, sie stehen deshalb nicht automatisch außerhalb der strukturellen Machtverhältnisse zwischen Männern und Kindern. Die Selbsteinschätzung mancher »Pädophiler«, durch ihre Liebe zu Kindern aus dem Herrschaftsverhältnis herausgetreten zu sein, ist im besten Falle verträumte Illusion, angesichts realer Gewalt gegen Kinder aber eher eigennützige Ignoranz gegenüber den Ursachen solcher Gewalt.

Angesichts solcher struktureller Machtverhältnisse sagt die Tatsache, dass auf einem Bild eines nackten Kindes kein offener Zwang oder Widerwillen erkennbar ist, nichts drüber aus, inwieweit die Entstehung des Bildes Ausdruck selbstbestimmter Wünsche des Kindes ist. dass die Abwesenheit sichtbaren Zwangs schon Selbstbestimmung garantiert, gilt für Kinder und besonders für Mädchen noch viel weniger als für Erwachsene.

Aber die Gleichsetzung mit der Abwesenheit sichtbaren Zwangs ist nicht die einzige Verkürzung des Selbstbestimmungsrechts von Kindern, die die Männerschwarm«-Erklärung enthält. Behauptet wird, »unter dem Gesichtspunkt des Kinderschutzes« sei einzig der Moment der Herstellung des Bildes, das Modellstehen von Kindern, entscheidend, nicht aber die spätere Wirkung des Fotos auf den Betrachter: »Bei der Betrachtung eines Fotos ist das Modell nicht anwesend, und es kann durch die Gefühle eines anonymen Betrachters keinen Schaden nehmen.« Aber zu meiner Selbstbestimmung gehört auch, selber zu entscheiden, an welchen Orten und in welchen Zusammenhängen Abbilder von mir veröffentlicht und betrachtet werden können. Geschieht dies ohne meinen Willen, wird mein Selbstbestimmungsrecht verletzt. Die bloße räumliche Trennung zwischen »Modell» und Bild oder die Anonymität der Betrachter verhindern diesen »Schaden« nicht.

Wohl die wenigsten der Kinder, deren Nacktaufnahmen in Bildbänden oder Magazinen erscheint, hat vermutlich selber entschieden, dass und wo ihre Bilder veröffentlicht werden. Im besten Falle haben das ihre »gesetzlichen Vertreter« getan. Aber selbst wenn die Kinder selber gefragt wurden, hat ihre Zustimmung wenig mit Selbstbestimmung zu tun. Das dürften nicht nur die oben dargestellten Machtverhältnisse verhindern. Das setzte vor allem auch voraus, dass sie wissen, wie ihre veröffentlichten Abbilder betrachtet werden. Dazu müssten Kinder die sexuelle Bedeutung, die Erwachsene Aktbildern geben, richtig einschätzen können. Das ist aber nicht der Fall. Sowenig sich über die Sexualität von Kindern sagen lässt: dass die pornographische Benutzung von Aktbildern erst später im Leben erlernt wird, liegt auf der Hand; sie gehört meines Wissens nicht zur Selbsterfahrung von Kindern.

Für den Verkauf von Bildern, deren Veröffentlichung das Selbstbestimmungsrecht von Kindern verletzt, gibt es keine Rechtfertigung.

II.

In ihrer Kritik an der Männerschwarm-Erklärung im letzten Männerrundbrief (Nr.2) machen sich die Archiv-Männer eine Textpassage aus dem Flugblatt der Frauen/Lesben aus dem Hamburger Infoladen Schwarzmarkt zu eigen: » […] der Ausdruck Pädophilie [leugnet] die Tatsache der sexuellen Gewalt. Pädo=Kind, phil=liebend drückt das Gegenteil dessen aus, was mit diesem Begriff tatsächlich gemeint ist, nämlich Sexualität von Erwachsenen an Kindern: Pädophilie ist sexuelle Gewalt.«

Darüber, dass Frauen »Pädophilie« mit Sexualität von Erwachsenen an Kindern gleichsetzen und deshalb als sexuelle Gewalt definieren, kann und will ich nichts schreiben. Das Definitionsrecht darüber, was sexuelle Gewalt ist, liegt nicht bei (»heterosexuellen») Männern. Die Frage nach der »Richtigkeit» der Gleichsetzung von »Pädophilie» mit sexueller Gewalt, stellt sich für mich deshalb nicht. Um so mehr stellt sich aber die Frage, wie Männer – besonders auch »nicht-pädophile» – mit dem Vorwurf der sexuellen Gewalt gegenüber »pädosexuellen» Männern umgehen. Unsere Reaktion muss sich daran messen lassen, ob sie jenseits der Alternative zwischen augenzwinkernder Männerkumpanei und selbstgerechter Ausgrenzung der »Schweine» liegt – jener beiden altbewährten Abwehrmechanismen von Männern, sich mit dem patriarchalen Machtverhältnis nicht auseinanderzusetzen.

Wenn Männer kommentarlos5 »Pädophilie« auf Sexualität reduzieren und diese mit sexueller Gewalt gleichsetzen, transportiert dies in erster Linie ausgrenzende Selbstentlastung und ist deshalb auch inhaltlich falsch. Es ist zwar richtig, dass die deutsche Übersetzung des griechischen Begriffs »Pädophilie« das Sexuelle unterschlägt und deshalb verharmlosend wirkt. Das Etikett wird aber nicht dadurch richtiger, dass sein Mangel einfach umgekehrt wird und nur noch eine bestimmte Form der Sexualität bezeichnen soll. Mann kann männliche »Pädosexualität» ebensowenig auf sexuelle Praktiken reduzieren wie männliche »Heterosexualität«. Wie männliche »Heterosexualität« umfasst auch männliche »Pädosexualität« neben den sexuellen Phantasien und Realitäten der »pädophilen« Männer deren Lust und Unlust, Beziehungswünsche, -ängste und – rollen sowie bestimmte Verhaltensmuster. Die sogenannte sexuelle Orientierung ist immer auch Ausdruck einer gesellschaftlich und lebensgeschichtlich geprägten Gefühlswelt. Bezüglich dieser Gefühlswelt haben »heterosexuelle« Männer mit »pädophilen« Männern mehr gemeinsam, als den meisten lieb sein wird und als es auf den ersten, »sexuellen Blick« erkennbar ist. Beziehungswünsche und sexuelles Begehren sind bei »hetero-« wie »pädosexuellen« Männern untrennbar verwoben mit dem patriarchalen Machtverhältnis. Sie bedienen sich jeweils dieses Machtverhältnisses, indem sie Nähe ausschließlich und ausgerechnet zu Frauen bzw. Kinder anstreben, im Verhältnis zu denen sie gleichzeitig über strukturelle Herrschaft verfügen können .6 Mit der Reduzierung von »Pädophilie« auf die fremde Sexualität entlasten sich »Heteros« von dieser strukturellen Gemeinsamkeit ihrer »sexuellen Orientierung« mit derjenigen der »Pädos«.

Ähnlich verhält es sich mit der glatten Gleichsetzung von »Pädophilie« mit sexueller Gewalt. Mit ihr erweckt mann den Eindruck, dies sei bei der eigenen »Heterosexualität« anders. Sicherlich lässt sich die gesellschaftliche Stellung von Frauen heute nicht mit der Machtlosigkeit von Kindern vergleichen. Dies ist aber kein Ergebnis bewusster Selbstveränderung von Männern, ihrer Beziehungswünsche und ihrer Sexualität, sondern Folge des Widerstands und der Gegenmacht von Frauen innerhalb veränderter gesellschaftlicher Produktionsbedingungen. Kein »heterosexueller« Mann kann ernsthaft diese Entwicklung und ihr Ergebnis als antipatriarchalen Pluspunkt seiner eigenen »sexuellen Identität« gegenüber der von »Pädosexuellen« verbuchen. Aus dieser Perspektive ist männliche »Pädosexualität« nicht mehr und nicht weniger sexuelle Gewalt als männliche »Heterosexualität« .7

Mit der Definition »Pädophilie ist sexuelle Gewalt« erklärt mann die sexuelle Gewalttätigkeit zum Wesen der »Pädosexualität« und damit auch der »Pädophilen«. Ausgeblendet wird dadurch die eigene Mitwirkung aller Männer an dem patriachalen Machtverhältnis zwischen Männern und Kindern, innerhalb dessen »Pädophilie« überhaupt erst zur sexuellen Gewalt werden kann.

Will die Kritik von Männern an der »Pädophilie« als sexuelle Gewalt nicht schlicht neue Verpackung für die althergebrachte Ausgrenzung »abweichender« Sexualitäten sein, müsste der Bezugspunkt der Kritik, das von allen Männern zu verantwortende gesellschaftliche Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen und zwischen Männern und Kindern betont werden. dass »pädophile« Beziehungen ohne sexuelle Gewalt denkbar würden, gehörte dann genauso zu den Utopien einer antipatriachalen Männerbewegung, wie heterosexuelle Beziehungen jenseits des Patriarchats – wenn es dann noch so etwas wie »Pädo-« oder »Heterosexualität« gäbe.

Ralf Ritter

  1. »öffentliche Erklärung« vom 28.4.93 ↩︎
  2. Flugblatt vom 25.8.93 der Frauenlesben vom Frauentag im Schwarzmarkt und der Frauen aus der gemischten Schwarzmarktgruppe ↩︎
  3. https://maennerrundbrief.noblogs.org/ausgaben/nr-2-gegen-die-patriarchalen-verhaeltnisse-fuer-ein-herrschaftsfreies-leben-dezember-1993-317/ ↩︎
  4. Die Männerschwarm-Erklärung wandte sich mit dem Aufruf zur Solidarität ausdrücklich auch an »denkende Herterosexuelle«. ↩︎
  5. Mehr als das Zitat aus den Frauen/Lesbenflugblatt war in der Stellungnahme der Archiv-Männer zu »Pädophilie« nicht enthalten. ↩︎
  6. An dieser Gemeinsamkeit von »heterophilen« Männern mit »pädosexuellen« Männern ändert nur wenig, dass »Heteros« heute mit mehr Widerstand und Gegenmacht von Frauen rechnen müssen als »Pädos« von Kindern. ↩︎
  7. Die Beweislast dafür, dass einzelne »hetero-« oder »pädophile« Männer aktuell keine sexuelle Gewalt ausüben, tragen die Männer. ↩︎